Verein Pikler Gesellschaft Berlin e.V. – Wie wir wurden, was wir sind

In den 1970er Jahren suchten die Physiotherapeutinnen Monika Aly, Tina Kruse, die Psychologin Renate Wolf und die Kinderärztin Andrea Loebell-Buch, langjährige Kolleginnen in einem Zentrum der Spastikerhilfe im Südwesten Berlins, nach neuen Konzepten in der Versorgung von Kindern mit Behinderung.

Die Verbringung von Kindern aus dem gesamten westlichen Stadtgebiet in eine Sondereinrichtung am grünen Stadtrand widersprach fundamental den damals neu aufkommenden Ideen der Integration.

Monika Aly wurde durch einen Vortrag auf den italienischen Neuropädiater Adriano Milani-Comparetti aufmerksam. Milani-Comparetti war ein Pionier der Integration der ein völlig neues Verständnis von Rehabilitation einführte und verwirklichte. Im Mittelpunkt seines Denkens standen die Fähigkeiten des Kindes und dessen eigene Kompetenz, die es zu akzeptieren und zu fördern gilt. Therapie sollte der Unterstützung des Kindes in seinem Alltag dienen und nicht isoliert sein von seinen Wünschen, Interessen und sozialen Bezügen. Einer seiner Lehrsätze war :„Hände weg vom Kind“.

Monika Aly arbeitete ein Jahr im „Centro di Educazione Motoria Anna Torrigiani“ in Florenz unter der Leitung von Milani-Comparetti und Anna Gidoni. Sie lernte die dortigen Stadtteil-Ambulanzen kennen, in denen Kinder mit Behinderung wohnortnah, für die Familien unkompliziert, auf hohem medizinischem und therapeutischem Niveau versorgt wurden.

Nach dem Florentiner Vorbild der Nichtaussonderung gründete die Berliner Gruppe 1980 das Ambulatorium im Berliner Stadtteil Wedding. Das Ziel der Gründerinnen war, Kinder mit Behinderung und ihre Familien vor Ort zu betreuen und die Kinder in den umliegenden Regelkindergärten zu integrieren. Es war die erste Einrichtung dieser Art in Berlin. Das Ambulatorium arbeitete zunächst weiterhin unter der Trägerschaft der Spastikerhilfe Berlin.

1982 lernte Monika Aly Emmi Pikler bei einer Tagung in Göttingen kennen, auf der beide Vorträge hielten. Emmi Pikler sprach über die selbständige Bewegungsentwicklung und die Übergangspositionen, die sie erforscht hatte, Monika Aly über die Störungen, die durch manipulative Therapie kleiner Kinder verursacht werden können. Trotz ihrer verschiedenen Blickwinkel erkannten beide Frauen die Gemeinsamkeit ihrer Ansätze. In der Folge entwickelte sich ein reger Austausch mit Emmi Pikler und ihren Mitarbeiterinnen, der die Arbeit des Berliner Teams nachhaltig prägte.

1989 löste sich das Weddinger Ambulatorium von seinem ursprünglichen Träger. Die „Pikler Gesellschaft Berlin e.V. – Verein für Bewegungsentwicklung und Integration“ wurde als neuer Trägerverein gegründet und vom Senat anerkannt. Zu den Gründungsmitgliedern des Vereins gehörten auch Anke Zinser, die in der Senatsjugendverwaltung Berlin für die Integration von Kindern mit Behinderung in Kindertageseinrichtungen verantwortlich war. Das Berliner „Gesetz zur Förderung und Betreuung von Kindern in Tageseinrichtungen und Tagespflege“, das die Nichtaussonderung gesetzlich verankerte, entstand wesentlich durch den Einfluss der Berliner Pikler Gesellschaft. Der Vorsitzende des wachsenden Vereins war über viele Jahre der Arzt Dr. W. Zinser. 1991 wurde ein zweites Pikler-Ambulatorium in Schöneberg gegründet. Erst später kamen Kinder- und Jugendambulanzen in anderen Stadtteilen unter anderen Trägern nach dem Vorbild der Pikler-Ambulanzen zur Berliner Versorgungslandschaft hinzu.

Über 25 Jahre, bis 2005, unterstützen die beiden interdisziplinären Teams der Pikler-Gesellschaft Kinder mit Behinderung und ihre Familie im Bereich der Inklusion durch Beratung und therapeutisch-inklusive Kleingruppenangebote in Kindertagesstätten. In den Ambulanzen fanden Arztvisiten, Beratungen, Therapien und inklusive Eltern-Kind-Gruppen statt. Außer Monika Aly und Renate Wolf waren u.a. Margarete Große-Rhode, Heike Gräf und Anja Werner Mitarbeiterinnen der Teams.

Es bestand ein enger Kontakt zum Pikler-Institut in Budapest: Anna Tardos, damals Leiterin des Instituts, besuchte einmal im Jahr unsere Einrichtung und schulte die Teams in einer zweitägigen Supervision. Die Mitarbeitenden hospitierten umgekehrt in Budapest und bildeten sich in der Pikler-Pädagogik weiter. Die Bewegungslehrerin Ute Strub bot regelmäßig Hengstenberg- und Sensory Awareness-Arbeit für die Teams an – es war ein besonderes und anregendes Arbeiten!

Eine Reform der Berliner Senatsjugendverwaltung, die die Vereinheitlichung der verschiedenen Ambulanzen und eine Umgestaltung in diagnostisch und medizinisch orientierte SPZs zum Ziel hatte, beendete 2005 die Trägerschaft der Pikler Gesellschaft für ihre beiden Einrichtungen.

In den folgenden Jahren hat sich unser Tätigkeitsfeld verändert: unser Schwerpunkt liegt nun verstärkt auf der Verbreitung der Pikler-Pädagogik, ergänzt durch unsere speziellen Kompetenzen in der Therapie und Inklusion junger Kinder.

Durch den zunehmenden Ausbau der Krippenplätze ab 2006 und das Krippengesetz von 2013 wuchs das Interesse an der Pikler-Pädagogik spürbar. Der Pikler-Ansatz ist die einzige Pädagogik im U3-Bereich, die ursprünglich für diese Altersgruppe konzipiert und deren praktische Anwendung im Budapester Pikler-Institut über Jahrzehnte wissenschaftlich begleitet wurde. Sie ermöglicht eine zugewandte, individuelle Versorgung im Rahmen einer Gruppensituation, da sie auf die speziellen Bedürfnisse und die Entwicklung sehr junger Kinder in besonderem Maße eingeht.

Die Anfragen nach Beratung, Fort- und Weiterbildung für Krippenerzieher:innen und Tagespflegepersonen stiegen in den Folgejahren beträchtlich. Die Pikler®-Dozentinnen und –Pädagoginnen unseres Vereins sind daher nicht nur in Berlin, sondern im gesamten Bundesgebiet und darüber hinaus mit Fortbildungstätigkeiten beschäftigt.

Heute umfasst unser Angebot Einführungen in die Pikler-Pädagogik und die berufsbegleitende Weiterbildung zur Pikler-Pädagogin/zum Pikler-Pädagogen in Zusammenarbeit mit dem Pikler-Dachverband Europa; wir beraten Eltern und Kitas und bilden Therapeut:innen im Kindbereich fort; wir organisieren Fachtagungen zu Themen der frühen Kindheit und geben in unserem Verlag eine Schriftenreihe mit Texten zur Pikler-Pädagogik heraus. Der Vereinssitz und die Ausbildungskurse sind in die physiotherapeutische „Praxis Beweggründe“ von Anja Werner eingebettet und nach wie vor gibt es, in guter Tradition, inklusive Eltern-Kind-Gruppen nach Pikler, die von Amelie Suchy und Charlotte Mühlinghaus in neuer Weise konzipiert wurden.